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ORF ON Science :  News :  Medizin und Gesundheit .  Leben 
 
Verspätete Anerkennung - ein Wissenschaftsmythos?  
  Wenn man nach Beispielen für Forscher sucht, deren bahnbrechende Entdeckungen zu Lebzeiten ignoriert wurden, wird für gewöhnlich der Fall Gregor Mendel genannt. Seine Erkenntnisse zur Natur der Vererbung wurden erst drei Jahrzehnte nach ihrer Veröffentlichung wiederentdeckt - um dann einen verspäteten Siegszug im kollektiven Forscher-Gedächtnis anzutreten. Wie groß ist die Chance, dass es auch heute einen "Fall Mendel" gebe? Folgt man der Untersuchung zweier Szientometriker, offenbar ziemlich gering.  
Wie Eugene Garfield vom Institute for Scientific Information und Wolfgang Glänzel von der Katholieke Universiteit Leuven berichten, liegt heute der Anteil von wichtigen und verspätet wahrgenommenen Forschungsarbeiten unterhalb des Promillebereichs. Ihre Untersuchung basiert auf einer Zitationsanalyse von 450.000 Artikeln aus dem Jahr 1980.
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Der Artikel "The Myth of Delayed Recognition" von Wolfgang Glänzel und Eugene Garfield erschien im Wissenschaftsmagazin "The Scientist" (Band 18, Ausgabe vom 7.6.04).

Die ausführliche Version der Studie wurde unter dem Titel "Better late than never? On the chance to become highly cited only beyond the standard bibliometric time horizon" im Fachmagazin "Scientometrics" (Band 58, S.571-86) veröffentlicht.
->   Zum Originalartikel bei "The Scientist"
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Ein Mönch schreibt Geschichte
Das Beispiel ist Legende: Der österreichische Augustinermönch Gregor Mendel veröffentlichte im Jahr 1866 eine Arbeit mit dem Titel "Versuche über Pflanzenhybriden" in der Zeitschrift "Verhandlungen des Naturforschenden Vereins Brünn", in der er die grundlegenden Gesetze der Vererbung aufklärte.
->   Die Original-Arbeit bei mendelweb.org
Kaum Resonanz in der Fachwelt
Obgleich die häufig gemachte Feststellung, dass die Studie bis zu ihrer verspäteten Wiederentdeckung kein einziges mal zitiert wurde, nicht ganz richtig ist (tatsächlich wurde Mendel vor 1900 sogar in der Encyclopedia Britannica zitiert), lässt sich doch folgendes festhalten:

Die Resonanz auf seine bahnbrechende Studie war drei Jahrzehnte lang beinahe gleich Null, insbesondere die Meinungsbildner seiner Disziplin betreffend. Und dabei hätten manche - wie etwa ein gewisser Charles Darwin - die Mendelschen Erkenntnisse für ihre eigenen Theorien nur allzu nötig gebraucht.
->   Mehr dazu: Warum Darwin kein Darwinist war (11.8.03)
Wiederentdeckung und Prioritätsstreit
Im Jahr 1900 war es dann endlich so weit: Die Botaniker Carl Erich Correns, Erich von Tschermak und Hugo de Vries entdeckten aufgrund eigener Versuche die Erbregeln der - wie es heute heißt - klassischen Genetik.

In einem Prioritätsstreit der drei betonte letzterer, diese als erster veröffentlicht zu haben, worauf sich Correns der historischen Keule bediente und - in Bezugnahme auf die Pionierarbeit von 1866 - den Begriff der "Mendelschen Gesetze" prägte. Damit war das Gerangel um Priorität erledigt, der Name sollte sich fortan erhalten.
Biologie um 1900 war reif für Neuerungen
Zur allgemeinen Akzeptanz der Mendelschen Erbregeln dürfte auch folgender Umstand begetragen haben: Die Wissenschaft war zu dieser Zeit konzeptuell und methodisch auf solche Neuerungen vorbereitet.

Es gab um 1900 bereits Färbetechniken für Chromosomen, statistische Methoden wurden gerade etabliert - und an die (falsche) Theorie der Mischerbigkeit ("blended inheritance") glaubte auch nicht mehr jeder. 34 Jahre zuvor war das noch anders gewesen.
->   History of Evolutionary Theory (University of Southern California)
Beispiel: Virus als Krebsauslöser
Solche verschleppte Anerkennungen nennen Wissenschaftsforscher "delayed recognition" (bzw. aus Sicht der Entdeckung: "premature discoveries"), für die es auch Beispiele aus neuerer Zeit gibt.

Etwa die vom US-Virologen Francis Peyton Rous entwickelte Theorie, der zufolge auch Viren als Auslöser von Krebsgeschwüren fungieren können. Rous wurde für seine Entdeckung des Rous-Sarkom-Virus im Jahr 1966 mit dem Nobelpreis bedacht.

Allein, die Entdeckung selbst datiert aus dem Jahr 1910, seine Theorie brauchte also satte 56 Jahre, um in das medizinische Lehrgebäude einzusickern.
->   Francis Peyton Rous (medicine worldwide)
Wäre ein "Fall Mendel" heute möglich?
Das wirft folgende Frage auf: Wäre ein "Fall Mendel" auch in der zeitgenössischen Wissenschaft möglich? Eugene Garfield, Gründer des "Institue for Scientific Information" in Philadelphia, gesteht zwar zu, dass es solche Fälle gebe, sie seien aber die Ausnahme der Regel.

Er verfolgte mit seinem Fachkollegen Wolfgang Glänzel die Zitationsgeschichte von 450.000 Publikationen, die im Jahr 1980 vom "Science Citation Index" erfasst worden waren.
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Science Citation Index
Der Science Citation Index (SCI) wurde von Eugene Garfield eingeführt und wird vom Institute for Scientific Information (ISI) als Datenbank für bibliografische Recherchen betrieben. Darin werden gegenwärtig etwa 3.700 naturwissenschaftliche und technische Zeitschriften geführt. Mittlerweile gibt es auch eine erweiterte Version ("Science Citation Index Expanded"), die rund 5.800 Journale erfasst.

Um in diese List aufgenommen zu werden, müssen die Zeitschriften gewisse Kriterien erfüllen. Dazu gehören etwa englische Abstracts der Artikel oder die Praktizierung eines Peer-Review-Systems. Die Daten des SCI werden auch zur Berechnung des berüchtigten "Impact-Faktors" von Zeitschriften herangezogen.
->   Mehr zum SCI beim Institute for Scientific Information
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Definition: Schwach starten, tolles Finish
Bei ihrer Analyse definierten die Forscher "delayed recognition" folgendermaßen: Die Studien mussten in den ersten fünf Jahren nach ihrer Publikation nicht oder äußerst selten zitiert worden sein, um dann innerhalb der darauf folgenden 15 Jahre eine sehr hohe Aufmerksamkeit (mindestens 50 Zitate) zu erregen.
Nur 0,13 Promille sind "slow starter"
Erstaunlicherweise erfüllten lediglich 0,13 Promille der untersuchten Arbeiten diese Vorgaben. 43 Prozent davon gehörten zur Kategorie Lebenswissenschaften, gefolgt von Physik (22 Prozent) sowie Chemie, Technik und Mathematik (jeweils 12 Prozent).

Garfield und Glänzel ziehen daraus den Schluss, dass es sich beim Phänomen der verspäteten Würdigung um einen Mythos handle, da wichtige Arbeiten meist innerhalb der ersten fünf Jahre nach ihrer Publikation wahrgenommen würden.

Ein ausgesprochener "slow starter" wie Mendel sei also in der heutigen Zeit extrem unwahrscheinlich.
Eingeschränktes Blickfeld
Ein Blick auf Details des untersuchten Datenpools relativiert diese Schlussfolgerung jedoch ein wenig: Zum einen erfasst der SCI nur naturwissenschaftliche und technische Journale.

Disziplinen mit gedehnteren Publikationszyklen - wie etwa die Geschichtswissenschaft - wurden daher nicht berücksichtigt. Zum zweiten ist zu bedenken, dass Mendels Arbeit in einem völlig unbekannten Journal publiziert wurde, Garfield selbst bezeichnete dieses in einem früheren Essay als "obskur".

Ein aktuelles Gegenstück der "Verhandlungen des Naturforschenden Vereins Brünn" würde daher wohl kaum in den "Science Citation Index" aufgenommen.

Robert Czepel, science.ORF.at
->   Aufsätze von Eugene Garfield über "delayed recognition"
->   Institute for Scientific Information
->   Katholieke Universiteit Leuven
Mehr zu diesem Thema in science.ORF.at
->   Die Geografie der wissenschaftlichen Zitierung (1.9.03)
->   Die "Bogdanov-Affäre" beschäftigt die Wissenschaft (8.11.02)
->   "Peer Review" im Kreuzfeuer der Kritik (4.10.02)
->   Nobelpreis-Anwärter als Fälscher entlarvt (27.9.02)
->   Kann wissenschaftliche Qualität gemessen werden? (18.9.02)
 
 
 
ORF ON Science :  News :  Wissen und Bildung .  Leben 
 
  sensortimecom | 19.06, 09:48
Chance anno 2004: NULL
Der Grund warum es einen zweiten Fall Mendel heute nicht mehr geben kann, liegt auf der Hand:

Ein ECHTES neues Paradigma, dass den evolutionären Verlauf der Erweiterung des Wissens sprengen würde, kann sich die Wissenschaft angesichts der totalen politischen, wirtschaftlichen und publizistischen Vernetzung bzw. Globalisierung gar nicht mehr leisten.
Beispiel: Evolutionstheorie.

Daher wird jede Emergenz von alternativem Denken nicht nur argwöhnisch beäugt, sondern auch bekämpft. Jedem, der sich als nicht-universitärer Outsider mit Forschung, egal auf welchem Gebiet, beschäftigt, muss von vornherein klar sein, dass er auf Glatteis wandelt, und dass er mit keinerlei Unterstützung zu rechnen hat.
Es gibt hier Ähnlichkeiten z.B. zu Religionsgemeinschaften, wo eine Amtskirche einen Abtrünnigen als Sektierer ausschließt und verdammt.

Jedem Querdenker in der Forschung
muss bewusst sein, dass er nicht für sich selbst bzw. für seinen eigenen persönlichen Erfolg arbeitet, sondern im besten Fall als (zumeist unbekannter!) Hecht im Karpfenteich der etablierten Wissenschaft. Sein Erfolg besteht lediglich darin, zu sehen, wie seine Ideen vom wissenschaftlichen Establishment Scheibchen für Scheibchen abgekupfert und in einem (scheinbar!) evolutionären Prozess umgesetzt werden, der Jahrzehnte dauern kann - wobei die Rosinen von anderen geerntet werden. Sein Trost ist aber, dass die Wahrheit letzten Endes immer siegreich bleibt.

mfg Erich B. www.sensortime.com
 
 
  bergblume | 19.06, 12:38
Querdenker
Ich erinnere mich an einen Arzt, der eine diskutiernswürdige Methode entwickelt hat. Das Projekt wurde einem Universitätsprofessor vorgestellt. Dieser reagierte folgendermaßen :
Das kann nichts taugen ,da der betreffende Arzt kein Professor sei. Basta. Dieser Universitätsprofessor verdankte übrigens seinen Posten seinen guten polititschen Beziehungen.
  radiodoc | 19.06, 18:38
wenns nicht wahr ist, ist es zumindest schlecht erfunden..
die meisten wiss. Arbeiten werden von Leuten publiziert die sich erst habilitieren wollen..Der Titel Prof. sagt wenig, (es gibt so viel verschiedene) wenn man damit Vorstände von Kliniken oder klin . Abteilungen meint: die publizieren selbst nur mehr wenig, werden aus "Höflichkeitsgründen" immer in die Authorenliste der Arbeiten aufgenommen. (auch wenn sie selbst nichts beigetragen haben)
  bergblume | 19.06, 21:47
Ergänzung
Besagter Arzt war niedergelassener Arzt. Besagter Professor war Primararzt. Ich wollte nur auf die Arroganz mancher Habilitierter hinweisen. Daß im Rahmen von Begutachtungen abgekupfert wird, hat man mir auch berichtet, kann ich aber nicht verifizieren.
  bergblume | 19.06, 07:05
verkannte Forscher
Zuerst muß der Artikel in einer Fachzeitschrift angenommen werden.Der citation index ist ja auch nicht so wahnsinnig objektiv, wie ich mir habe sagen lassen . Ein Beispiel fällt mir ein. ( bitte um Korrekturen, falls unrichtig ) Der Gynäkologe Papanicolao erfand den Krebsabstrich . Er hat damit sicher einer Unzahl von Frauen das Leben gerettet. Er wurde jahrelang verkannt, viele Frauen starben weiter, er war kein Professor. Ich habe noch nie etwas vom Nobelpreis für Medizin für ihn gehört. Aber einen würdigeren Arzt als ihn gäbe es sicher nicht.
 
 
  bergblume | 19.06, 08:19
Pap - Abstrich
Jede Frau kennt ihn , den Pap- Abstrich ( Krebsabstrich ) Erfunden: 1928
Dr.G.N. Papanicolao.
  radiodoc | 19.06, 18:28
Papanicolaou gehört nicht zu den "verkannten Genies"
... Some of the many awards and honors he received were the First Award of the Order of AHDPA, as the Most Outstanding American Scientist of Greek Descent; The Honor Medal of the American Cancer Society; The Modern Medicine Award for Distinguished Achievement; Honorary Member of the Obstetrical and Gynecological Society of Athens; Honorary Member of the New York Academy of Sciences; Permanent Honorary Consultant to the Society of Pelvic Surgeons; and Honorary Degrees from the University of Athens, University of Turin and the Hahnemann Medical College. .....
  bergblume | 19.06, 21:41
radiodoc
Was ich meinte ist, daß es, soweit ich mich erinnere,ca 30 Jahre gedauert hat, bis sich seine Methode durchgesetzt hat. Bis zu diesem Zeitpunkt mußten viele Frauen sterben. Übrigens versuchte ich im Internet eine Lebensbeschreibung zu finden ... nichts da. Am Anfang hat man ihn genau so verkannt , wie Ignaz Semmelweis.
  radiodoc | 19.06, 23:58
@bergblume
zum Leben von Papanicolaou http://ctct.essortment.com/uterinecancerp_ruxf.htm
  bergblume | 20.06, 07:46
Informationen radiodoc
Dan,e für die Informationen.
  bergblume | 20.06, 07:47
radiodoc
k
  tromsdalen | 18.06, 17:00
Mehr dazu: Warum Darwin kein Darwinist war (11.8.04)
wie schon unter diesem Link bemerkt -es ist schon erstaunlich, wie schnell sich die Erfolge des Beamens in Innsbruck ausgewirkt haben, wenn wir heute, am 18.6.04 bereits über einen Artikel schreiben, der am 11.8.04 veröffentlicht wurde. Wir sind aber auf Zack, alle Achtung!
 
 
 
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