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Tschernobyl - die Geschichte einer Vertuschung  
  Die ukrainische Journalistin Alla Jaroschynska ist in den 90er Jahren bei Recherchen über die Tschernobyl-Katastrophe auf geheime Dokumente gestoßen, die auf eine massive Vertuschung sowie Desinformationspolitik durch die sowjetische Führung hinweisen. Demnach verharmloste die Staats- und Parteiführung das Ausmaß der Kontamination, schickte Menschen in die verstrahlten Gebiete zurück, brachte belastete Nahrungsmittel in Umlauf und bot dem Ausland ein beschönigtes Bild des Geschehens.  
Für ihren Einsatz um die Aufklärung der Missstände um Tschernobyl erhielt Jaroschynska 1992 den Alternativen Nobelpreis.
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Anlässlich des 20. Jahrestages der Reaktorkatastrophe von Tschnernobyl am 26. April stellt A. Jaroschynska einige Ergebnisse ihrer Recherchen in der Zeitschrift "Eurozine" vor. Die angeführten Zitate sind ihrem dort erschienenen Artikel "Lüge-86. Die geheimen Tschernobyl-Dokumente" entnommen.
->   Zum Artikel bei Eurozine
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Einblick in geheime Dokumente
"In meinem persönlichen Tschernobyl-Archiv befinden sich Zeugnisse eines Verbrechens: Kopien von Schreiben der KPdSU und der sowjetischen Regierung, die bezeugen, dass man unverzüglich das Ausmaß und die Folgen der Katastrophe von Tschernobyl zu vertuschen suchte", beginnt Jaroschynska ihren Bericht in der Zeitschrift "Eurozine":

"Der Betrug an der eigenen Bevölkerung wurde in geheimen Protokollen, Mitschriften und Briefwechseln minutiös dokumentiert - in der Gewissheit, dass davon niemals irgendjemand erfahren würde."

Dennoch gelang es ihr im Jahr 1991, Einblick in die in die Geheimprotokolle der Politbüro-Sitzungen zu bekommen, als diese nach dem Verbot der KpdSU wegtransportiert werden sollten.
"Informationen sind geheim zu halten..."
Eines davon ist etwa die Anweisung der Dritten Hauptabteilung des Gesundheitsministeriums der UdSSR vom 27. Juni 1986 mit dem Titel "Über die verschärfte Geheimhaltung bei der Ausführung der Arbeiten an der Beseitigung der Folgen der Havarie im AKW Tschernobyl".

Darin heißt es unter anderem:
"Informationen über den Unfall sind geheim zu halten. [. . .]
Informationen über medizinische Behandlungsergebnisse sind geheim zu halten. [. . .]
Informationen über den Grad der radioaktiven Verseuchung des an der Beseitigung der Folgen des Unfalls im AKW Tschernobyl beteiligten Personals sind geheim zu halten."

Jaroschynska weist im Folgenden auf drei Problemkreise hin: die radioaktive Kontaminierung, die Unbedenklichkeit von Lebensmitteln sowie die Pressearbeit des Politbüros.
Radioaktive Kontaminierung
"Die erste Sitzung des Tschernobyl-Einsatzleitungsgruppe des Politbüros fand am 29. April 1986, drei Tage nach dem Reaktorunfall, statt. Vom 4. Mai an erhielt die Einsatzleitungsgruppe ständig neue Informationen über die Einweisung von Bewohnern der verseuchten Gebiete ins Krankenhaus."

Den Dokumenten zufolge überschritt die Zahlen der stationär Behandelten bereits am 12. Mai die Grenze von 10.000. Einen Tag später begannen jedoch die Krankenhäuser, verstrahlte Menschen reihenweise zu entlassen. "Je mehr Menschen unter der Strahlenkrankheit litten, desto gesünder wurde das russische Volk", merkt Jaroschynska in ihrem Bericht an.

Die Lösung dieses Rätsels der wundersamen "Heilung" findet sich in den Dokumenten: Es wurden einfach neue Grenzwerte festgelegt, die das bis zu Fünfzigfache der bisherigen Werte betrugen. "Auf diese Weise wird die gesundheitliche Unbedenklichkeit für die Bevölkerung jeder Altersstufe ... für die kommenden zweieinhalb Jahre garantiert", ist dort zu lesen.
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"Geheim. Protokoll Nr. 9. 8. Mai 1986. [. . .] Das Gesundheitsministerium der UdSSR bestätigte die neuen Grenzwerte der zulässigen radioaktiven Strahlenbelastung der Bevölkerung, die um den Faktor 10 höher sind als die vorherigen. In besonderen Fällen können die neuen Grenzwerte auch um den Faktor 50 höher sein als die bisherigen."
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Unbedenklichkeit von Lebensmitteln
Ähnlich ging man offenbar bei der Lösung des Problems kontaminierter Lebensmittel vor. War Milch verstrahlt, so erhöhte man eben die entsprechenden Grenzwerte.

In einem Geheimprotokoll vom 22. August 1986 heißt es etwa: "Seit 1. August gilt auf dem gesamten Gebiet der UdSSR für den Gehalt von radioaktiven Stoffen in der Milch ein zulässiger Grenzwert von 10-8 Curie pro Liter. [. . .] Die Produktion aus den genannten Gebieten ist nicht für den Export bestimmt."

Eine weitere Strategie, offenbar verseuchte Lebensmittel wieder nutzbar zu machen, war die "Verdünnung": Der Vorsitzende der Ministeriums für Agrarindustrie der UdSSR, V.S. Murachovskij, empfahl im selben Protokoll, kontaminiertes Fleisches in Wurstprodukten, Konserven und Halbfertigprodukten in einem Verhältnis von 1:10 zu normalem Fleisch zu mischen und über das Gebiet der UdSSR zu verteilen. Ausgenommen davon: Moskau.
"Ein leuchtender Krater"
Was die Berichterstattung gegenüber der Öffentlichkeit angeht, dürfte eine Sitzung des ZK des Politbüros vom 29. April 1986 - also drei Tage nach der Reaktorkatastrophe - von entscheidender Bedeutung gewesen sein.

Darin berichtete das Politbüromitglied V.I. Dolgich zunächst über den "leuchtenden Krater" des zerstörten Reaktors und das "Abwerfen von Säcken aus den Hubschraubern (zu diesem Zwecke wurden 360 Menschen und zusätzlich 160 Freiwillige mobilisiert, aber es gab Arbeitsverweigerungen)" - danach wurde die Informationspolitik diskutiert.
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Die Sitzung wurde von Michail Gorbatschow persönlich geleitet, der erklärte: "Je ehrlicher wir uns verhalten, desto besser." Kurz darauf aber relativierte: "Wenn wir die Öffentlichkeit informieren, sollten wir sagen, dass das Kraftwerk gerade renoviert wurde, damit kein schlechtes Licht auf unsere Ausrüstung geworfen wird."

Wie das Protokoll der Sitzung zeigt, einigte man sich nach einem Vorschlag von Politbüromitglied N.I. Ryzkov darauf, drei Versionen von Berichten der Vorgänge in Tschernobyl anzufertigen: "Wir sollten drei Mitteilungen verfassen: eine für unsere Leute, eine für die sozialistischen Staaten und eine für Europa, die USA und Kanada", so Ryzkov.

Auch für Pressekonferenzen gab es detaillierte Direktiven. In einem Protokoll vom 4. Juni 1986 wurde empfohlen, "auf die Unhaltbarkeit der Vorwürfe und Einschätzungen einzelner öffentlicher Persönlichkeiten wie auch der Presse in einer Reihe kapitalistischer Staaten hinzuweisen, die von einem beträchtlichen ökologischen und materiellen Schaden durch die Verbreitung geringer Mengen radioaktiver Stoffe durch die Luftströmung aus der Zone um das AKW Tschernobyl ausgehen."

[science.ORF.at, 24.4.06]
->   Katastrophe von Tschernobyl - Wikipedia
->   Das Stichwort Tschernobyl im science.ORF.at-Archiv
 
 
 
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  sensortimecom | 24.04, 17:36
Dank an die heldenhaften russischen "Liquidatoren"
Eines der letzten Postings in diesem Form von mir übrigens. Ich schreibe hier nur mehr in besonderen Ausnahmefällen.

Ich würde mir ENDLICH mal wünschen, dass den russischen und ukrainischen Feurerwehrleuten und "Liquidatoren", die unter Einsatz ihres Lebens (es starben Tausende!) geschuftet haben, das explodierte KKW mit Blei, Bor, Dolomit, Sand und Lehm zuzuschütten - und damit eine noch größere Katastrophe für Europa abzuwenden - in den Medien (z.B. im ORF) der GEBÜHRENDE DANK abgestattet wird. Sogar ein Denkmal sollte man errichten.

E. B.
 
 
  hosenbeisser | 24.04, 22:02
Halb so wild
Diese Liquidatoren waren nur deswegen notwendig, damit die die Blöcke 1-3 weiterhin betreiben und verwenden konnten. Das radioaktive Zeugs war eh schon zum grossteil draussen. Das Loch in Block 4 azuzumachen war schlicht arbeit nach dem Motto: Sie tun halt irgendwas damit die Zeit vergeht. Und vor sowas gibts kein Denkmal und auch keinen Orden.
  aasgeier | 27.04, 09:26
von wegen "keine Orden"...
...nur was interessiert ein Orden, der nur als blanker Hohn verstanden werden kann.
Die geschädigten "Liquidatoren" warfen anlässlich einer Demonstration ihre Orden sogar öffentlich weg, weil man sich dafür keine Medikamente kaufen kann.

Wer die Gedenksteine für die sofort Verstorbenen zahlte weiß ich nicht; so ein Stein mit eingemeißeltem Portät dürfte aber teuer sein.
Immerhin hat da jeder eine individuelle Würdigung erhalten und musste nicht noch um die Anerkennung als Strahlengeschädigter kämpfen wie manche schwer Geschädigten die noch "leben".
  aasgeier | 27.04, 09:30
Porträt, Portrait oder wie auch immer diese Fotoähnlichen Gravuren dort heißen mögen.
  darmsonde | 24.04, 15:23
woher kommen eigentlich die
aus dem Osten geschmuggelten Zigaretten, die oft abfällig "Tschernobyl-Tschick" genannt werden?
 
 
  hosenbeisser | 24.04, 22:03
Na, die kommen aus Tschernobyl und Umgebung
Deswegen heissen diese Tschicks auch so.

Und die schmecken deswegen so gut, weils mit besonders viel radioaktives Cäsium gefüllt sind.
  modelone | 24.04, 14:48
Bilder sagen mehr ...
als tausend Worte: http://www.magnuminmotion.com/essay_chernobyl/
 
 
  solarenergy | 24.04, 16:53
Bilder aus der Geisterstadt


http://www.kiddofspeed.com
  frühlingsblume | 24.04, 18:22
und kurzfilme auch ...
global 2000-projekt "tschernobyl-kinder":

http://www.global2000.at/pages/tschernobyl-kinder_video.htm

global 2000 hat übrigens eine europaweite petition gegen atomenergie laufen. auf der hompeage www.global2000.at/gegenatom kann jede/r ganz unkompliziert online unterschreiben
  daoarge | 24.04, 14:45
Es wäre heute nicht anders ...
weit schneller als die Informationen wären die radioaktiven Wolken bei uns, egal, woher auch immer ...
Der Nachrichtentext beginnt doch bei jedem Zwischenfall immer mit "wie erst jetzt bekannt wurde ..."
 
 
  wiso15 | 24.04, 14:41
Und gerade, weil so viel
vertuscht wurde, glaube ich, daß auch die Opferzahlen nicht stimmen. Von den vielen Arbeitern, die hauptsächlich vom Militär kamen (bestimmt aus allen Teilen der UDSSR), sind sicher viele an der Verstrahlung gestorben. Ich glaube, daß da einfach die Totenscheine gefälscht wurden (Ort und Todesursache) - nichts einfacher als das...

Es gibt ja auch kaum einen Anstieg an behindert geborenen Kindern - die meisten wurden bestimmt abgetrieben und darüber gibt es wohl auch keine Statistik...
 
 
  hosenbeisser | 24.04, 22:09
Die Opferzahlen stimmen schon
Es waren nicht so viele, einige Dutzend. Schau, nimm als Vergleich objektiv messbare Werte und Zahlen her. Und da wirst sehr schnell feststellen, dass die Strahlenbelastung von Tschernobyl im Mittel nichtmal 0.5% der gesamten Strahlenbelastung für den Menschen ausmacht. Das ist einfach sehr wenig. Folglich gibts auch nur wenige Opfer. Die Opfer die es gibt sind die damals direkt in der Nähe gearbeitet haben.

Die Strahlenbelastung der wir alle ausgesetzt sind, nämlich durch das Radon ist um mehrere Zehnerpotenzen höher als die Strahlenbelastung zufolge Tschernobyl. Nur das wollen die Atomhysteriker eben nicht hören. Für die muss es eine Verschwörungstheorie und Millionen von Opfer geben.
  coolsonofabeach | 24.04, 22:30
man fragt sich auch, ob nicht einiges an panikmache dahintersteckt.
  octogen | 24.04, 14:30
man hört ja heute noch...
...von Atomkraftbefürwortern: "das wird ja alles aufgeblasen, da sind in Wirklichkeit nur 30 Menschen gestorben" -- denn so steht's in dem offiziellen Unfallbericht von 1986. Bis zu den Spätfolgen reicht scheinbar der geistige Horizont oft nicht...
 
 
  wiso15 | 24.04, 14:55
und die Spätfolgen
sind viel schwerer zu beweisen:
Krebsstatistik in ehemalig sowjetischen Ländern? In einem kaum vorhandenen Gesundheitsystem? Was steht denn so in den Totenscheinen von armen Leuten, die nie einen Arzt gesehen haben? Tod durch Erfrieren, Alkoholmißbrauch (gegen die Schmerzen), Selbstmord (wegen der Schmerzen) - wieviel von diesen Todesfällen werden obduziert? Wo sind denn die Menschen, die abgesiedelt wurden, hingebracht worden? Weit weg, damit deren Spätfolgen in der Statistik nicht auffallen?
  borger | 24.04, 12:41
Gibt'S zu Sallafield auch solche Dokumente ?
oder sind die noch geheim ?
 
 
  coolsonofabeach | 24.04, 22:27
sorry was ist sallafield?
  derphysiker | 24.04, 10:26
hochinteressant.
wobei jetzt im nachhinein diese vorgangsweise von einem gar nicht mal so falschen pragmantismus zeugt, sind doch gerade in diesem bereich die festgesetzten grenzwerte ziemlich willkürlich (da es keine vernünftigen daten gibt).
 
 
  4zzr43l | 24.04, 13:34
Das sehe ich auch so. Vergleicht man übrigens den hier angegebenen, vorübergehend stark erhöhten Grenzwert für Milch, 10e-8 Curie = 370 Bq pro Liter, mit einem "Standarmenschen", der selber mit 100 Bq pro kg strahlt, erscheint er der gravierenden Situation durchaus noch angemessen.
  4zzr43l | 24.04, 16:44
vertippselt, "Standardmensch" muss es heißen
  makrospex | 27.04, 15:54
Grenzwerte
Grenzwerte für tödliche Substanzen?
Nach meinem Verständnis dürfte es dafür keine Grenzwerte geben.
Grenzwerte sind ein politisches Instrumentarium der Wissenschaft, um sich der Gesellschaft gegenüber zu plausibilisieren.

Ein Grenzwert ist eine Belastungs- Zumutbarkeitsgrenze.
Seit wann muss man sich denn Belastungen zumuten lassen? Reine Beschwichtigungstaktiken, wie eben in Chernobyl selbst 1986 und in den Folgejahren.

Wir sind schon so über-zivilisiert, dass wir unser Mitwirken an der Zerstörung des Ökosystems gar nicht mehr mit unserem Handeln in Verbindung bringen, sondern die Resultate etwas primitivem, unkontrollierbaren anlasten müssen: Z.B. der Natur selbst oder den bösen U.S.A.

Lesen sie "Die Logik des Misslingens".
Solche Unfälle ähnlich Cernobyl werden immer wieder passieren.


 
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