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Puzzle-Spiel: Wie das Gehirn Informationen verrechnet  
  Damit wir nicht ständig einem wüsten Chaos äußerer Sinneseindrücke ausgesetzt sind, sondern die Welt als Ganzes erleben, bedient sich das Gehirn aus Sicht der Neurowissenschaft einer Reihe von "Tricks": So "verrechnet" es verschiedene, zum Teil widersprüchliche Reize, um zu einer einzigen Wahrnehmung zu kommen. Unter Umständen gehen dabei allerdings die Informationen der einzelnen Reize verloren - etwa wenn verschiedene visuelle Signale kombiniert werden, wie es ein internationales Forscherteam nun beschrieben hat.  
Dagegen bleiben Informationen, die von unterschiedlichen Sinnen herrühren, wie dem Tast- und dem Sehsinn, auch bei widersprüchlichen Eindrücken vom gleichen Objekt als Einzelkomponenten erhalten.

Wie J. M. Hillis von der Universität Berkeley, Marc Ernst vom Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik und Kollegen in der aktuellen Ausgabe von "Science" mutmaßen, gibt es für diese zerebrale Strategie einen evolutionären Ursprung.
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"Combining Sensory Information"
Die Studie ist unter dem Titel "Combining Sensory Information: Mandatory Fusion Within, but not Between, Senses" in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins "Science" (Bd. 298, S.1627-1630) erschienen.
->   Die Studie (kostenpflichtig)
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Puzzle-Spiel mit Teilinformationen
Um sich ein Bild von der Welt zu machen, verarbeitet bzw. "verrechnet" unser Gehirn alle Informationen, die ihm über die Sinnesorgane zur Verfügung gestellt werden. Wie in einem Puzzle-Spiel setzt es die einzelnen Teilinformationen, die wir dabei von einem Objekt erhalten, zu einem Gesamtbild zusammen.

Dass das Gehirn bei diesen Verknüpfungen die Sinnesdaten nicht blind zusammenwürfelt, sondern statistisch optimal verrechnet, hatte eine ähnlich zusammengesetzte Forschergruppe bereits Anfang dieses Jahres beschrieben.
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Das Gehirn arbeitet statistisch
Im Jänner veröffentlichte Marc Ernst gemeinsam mit Kollegen eine Studie über die Leistung des Gehirns, verschiedene Sinnesdaten zu "verrechnen". Bei der Untersuchung visueller und haptischer Sinneseindrücke sprachen sie von "statistischen Aspekten", nach denen das Gehirn dabei vorgeht. Nur so sei eine maximale Informationsgewinnung garantiert.
->   Mehr dazu in science.ORF.at
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Wie geht die Verrechnung vor sich?
Grafik: Max-Planck-Institut f¿r biologische Kybernetik
Farb-Metamer
Ausgangspunkt der aktuellen Studie war die Frage, welche Folgen dieses statistisch optimierte Verhalten des Gehirns außerdem hat. Wie geschieht die Verrechnung bei Wahrnehmungsergebnissen, die aus verschiedenen, zum Teil widersprüchlichen Reizen zusammengesetzt sind und nicht mehr in die ursprünglichen Komponenten zerlegt werden können?

Ein anschauliches Beispiel für eine derartige Verrechnungsleistung sind die so genannten Farb-Metamere.
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Farb-Metamer: Reines und zusammengesetztes Gelb
Überblendet man rotes mit grünem Scheinwerferlicht, so nimmt der Betrachter lediglich gelbes Licht wahr. Er kann auf dieser Ebene nicht mehr zwischen zusammengesetztem Gelb und monochromatischem (einfärbigem) Gelb unterscheiden. Physikalisch unterschiedliche Reize, die zur selben Wahrnehmung führen, heißen Metamere. Farb-Metamere sind also ein Beispiel für einen Verarbeitungsmechanismus, dessen Wahrnehmungsergebnis vom Betrachter nicht mehr in seine ursprünglichen Komponenten zerlegt werden kann - das Gehirn erlaubt uns keinen Zugriff mehr auf die ursprüngliche Rot-Grün-Information.
->   Mehr über Farb-Metamere
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Zwei Experimente zu Seh- und Tastsinn
Um der Frage nachzugehen, ob es neben diesen visuellen Metameren auch so etwas wie Metamere der räumlichen Wahrnehmung gibt, führten Hillis und Ernst zwei Experimente durch.

Im ersten Experiment mussten die Versuchspersonen die Größe eines Balkens schätzen und durften hierfür sowohl ihren Seh- als auch ihren Tastsinn einsetzen. Ihr Gehirn verrechnete also "gesehene" und "gefühlte" Größeninformationen.

Im zweiten Experiment sollten die Versuchspersonen die Neigung einer Fläche abschätzen; diese Aufgabe war jedoch ausschließlich visuell zu lösen. Auch die Neigung der Fläche wurde über zwei Komponenten erfasst - hier aber über zwei ausschließlich visuelle Komponenten, dem perspektivischen und dem stereoskopischen Sehen.
Die Versuchsanordnung
In jeweils beiden Experimenten konnten die Wissenschaftler die einzelnen Komponenten getrennt voneinander manipulieren. Die Versuchspersonen sollten nun zwischen den Objekten - den Balken bzw. geneigten Flächen - unterscheiden, die aus diesen Komponenten mit jeweils unterschiedlichem Betrag zusammengesetzt waren.

Dabei benutzten die Forscher einen Trick: Sie wählten den Betrag der einzelnen Komponenten so, dass die Objekte im Ergebnis des Verrechnungsprozesses jeweils die gleiche Größe (Balken) bzw. die gleiche Neigung (Flächen) hatten.

Sollte es den Versuchspersonen trotzdem nach wie vor möglich sein, die Objekte zu unterscheiden, wäre das der Beweis dafür, dass das Gehirn nach wie vor auf die Einzelinformationen zugreifen, die Objekte also wieder in seine Komponenten zerlegen kann.
Eindrücke von Seh- und Tastsinn verschmelzen nicht ...
Die beiden Experimente lieferten unterschiedliche Ergebnisse: Durften die Versuchspersonen sowohl ihren Seh- als auch ihren Tastsinn zu Hilfe nehmen, so waren sie problemlos in der Lage, eine Unterscheidung zwischen den Objekten zu treffen. Das heißt, es gibt keine Größen-Metameren.

Visuelle und haptische Sinnesreize verschmelzen nicht miteinander - die Signale werden (anders als die rot-grün-Information) nach wie vor einzeln wahrgenommen.
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Verzicht bei zu großer Diskrepanz
Wenn die Diskrepanzen zwischen den Seh- und Tasteindrücken aber zu groß wurden, wird vom Gehirn auf eine der beiden Informationen verzichtet - je nachdem welcher als genauer erachtet wird. Das bedeutet nach Ansicht der Wissenschaftler, dass sich das Gehirn drei verschiedene Formen der Repräsentation eines Objekts beibehält: eine, die in der Kombination des visuellen und des haptischen Eindrucks wurzelt, sowie je eine, die ausschließlich auf den visuellen oder haptischen Signalen beruht.
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... ausschließlich visuelle Eindrücke hingegen schon
In dem Experiment dagegen, in dem die Probanden ausschließlich visuellen Reizen ausgesetzt waren, ging die Unterscheidungsfähigkeit verloren. Sie nahmen immer den "gewichteten Durchschnitt" der beiden Eindrücke wahr - gleichgültig, wie weit die Reize auseinander lagen.

Für stereoskopisches und perspektivisches Sehen, so die Schlussfolgerung der Wissenschaftler, existieren offensichtlich Metamere.
Gehirn bewahrt Informationen effizient
Warum widersprüchliche Informationen vom selben Sinnesorgan notwendigerweise zu einer Wahrnehmung verschmelzen, jene von verschiedenen Sinnesorganen hingegen nicht, erklären sich die Wissenschaftler folgendermaßen:

"Es kommt sehr oft vor, dass Menschen ein Objekt betrachten und eine anderes berühren. Daher ist es für das Gehirn sehr sinnvoll, die Information dieser beiden Reize auseinander zu halten", so Banks in einer Aussendung.

Weil es im Gegenteil sehr schwierig ist, zwei Dinge gleichzeitig anzusehen, sei es aber sinnvoll die Informationen einzelner visueller Reize zu streichen - nachdem sie zu einem gemeinsamen Sinneseindruck kombiniert worden sind. "Das Gehirn arbeitet sehr effizient und verschwendet ungern Energien für das Aufbewahren von Informationen, die es im echten Leben kaum benötigt."
Anwendungen in der Telemedizin
Wichtig könnten die nun gewonnenen Erkenntnisse für die Entwicklung von Virtual Reality sein, etwa von telechirurgischen Anwendungen: Beim Arzt etwa, der via Datenleitungen entfernte Operationsroboter bedient, sollte Sehen und Fühlen hundertprozentig im Einklang mit der Wirklichkeit stehen.
->   Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik
Mehr zum Thema in science.ORF.at:
->   Wie entsteht die Welt im Kopf?
->   Synästhesie - Vernetzung der Sinne
->   Neue Einblicke in das menschliche Gehirn
->   science.ORF.at-Archiv zum Thema Gehirnforschung
 
 
 
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