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Kopfposition und Akustik: Wie das Gehirn die Sinne integriert  
  Wie es das Gehirn schafft, verschiedene Sinnesinformationen zu einem einheitlichen Bild der Welt zu verarbeiten, ist eines der altehrwürdigsten Probleme der Neurobiologie. Forscher fanden nun heraus, wie das Nervensystem Kopfbewegungen und Hörsignale integriert: Spezialisierte Zellen im Stammhirn führen die beiden Informationen zusammen - nur auf diese Weise kann das Gehirn den genauen Ursprung von Lauten lokalisieren.  
Donata Oertel von der Wisconsin Medical School und Kiyohiro Fujino von der Kyoto University Graduate School of Medicine haben der Physiologie des Hörens auf den Nerv gefühlt. In einer aktuellen Publikation konnten sie zeigen, dass das Gehirn Hörreize und Kopfposition durch so genannte konvergente Informationsverarbeitung zusammenführt.

Verantwortlich dafür sind spindelförmige Zellen, deren Synapsen eine bemerkenswerte Eigenschaft aufweisen: Sie reagieren variabel oder starr - je nachdem, woher der eingehende Reiz stammt.
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"Bidirectional synaptic plasticity in the cochlear nucleus"
Der Artikel "Bidirectional synaptic plasticity in the cerebellum-like mammalian dorsal cochlear nucleus" von Kiyohiro Fujino und Donata Oertel erschien in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift "Proceedings of the National Academy of Sciences" (PNAS doi: 10.1073/pnas.0135345100).
->   Zum Abstract der Studie
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Das Hirn: Organ der Informationsverarbeitung
Aus naturwissenschaftlicher Sicht ist das Gehirn eine biochemische "Maschine", deren Zweck in der Informationsverarbeitung liegt. Allerdings handelt es sich dabei um eine äußerst komplizierte "Maschine".

Einige Eckdaten zu unserem Denkorgan: Es besteht - konservativ geschätzt - aus rund 100 Milliarden Nervenzellen. Jede dieser Zellen ist wiederum mit mindestens 10.000 anderen Neuronen durch so genannte Synapsen verbunden.

Das ergibt die astronomische Zahl von einer Million Milliarden (10 hoch 15) solcher Übertragungsstellen pro Gehirn. Kein Wunder also, dass die Erforschung der synaptischen Übertragungen ein Hauptgebiet der Neurowissenschaften darstellt.
Konvergenz von Hör- und Lageinformation
Donata Oertel und ihr Fachkollege Kiyohiro Fujino haben nun im Rahmen einer aktuellen Studie die Physiologie des Hörens untersucht. Ihr Untersuchungsobjekt waren einzelne Synapsen im Nucleus cochlearis, einem auditorischen Zentrum im Stammhirn .

Theoretischer Hintergund ihrer Fragestellung: Bislang war nicht ganz klar, wie das Gehirn akustische Reize und die Lageinformation von Kopf und Ohren wechselseitig verrechnet.

Die Antwort: Das Denkorgan bedient sich einer so genannten konvergenten Verarbeitung. Mit anderen Worten, es gibt spezialisierte Zellen, die sowohl Hör- als auch Lageinformationen empfangen und integrieren.
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Das Bindungsproblem
Die Lösung der konvergenten Reizverarbeitung funktioniert zwar in diesem konkreten Fall, ist aber nicht erfolgreich auf die Frage nach dem Ort von Bewusstsein anwendbar. Und zwar deswegen, weil es im Gehirn keinen eng begrenzbaren "Sitz" des Bewusstseins gibt. Um neuronale Informationen zu bewusstem Empfinden zusammenzusetzen, bedient sich das Gehirn vielmehr eines anderen Tricks: Es zeichnet solche Informationen als zusammengehörig aus, indem es sie synchronisiert.
->   Mehr dazu in science.ORF.at: Wie entsteht die Welt im Kopf?
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Hören: Das Orientierungsproblem
Die Hauptaufgaben des Hörsystems im Gehirn bestehen in der Lokalisierung von Tönen und Geräuschen und der Analyse von deren Eigenschaften.

Ein konkretes Beispiel: Um herauszufinden, aus welcher Richtung Töne kommen, verrechnet das Hörsystem die Lautstärken- und Gangunterschiede von Schallwellen - und kann auf diese Weise eine Schallquelle lokalisieren.

Das Orientierungsproblem wird allerdings um einiges komplizierter, wenn sich die Empfangsorgane (d.h. die Ohren) selbst bewegen. Hier ist eine wechselseitige Verrechnung der Kopflage mit den wahrgenommenen Tönen notwendig.
Zellen zur Integration der Sinne
Nach Oertel und Fujino sind spindelförmige Zellen im so genannten Nucleus cochlearis des Stammhirns mit dieser Aufgabe betraut. Sie werden von zwei Arten feiner Zellfortsätze, so genannten Dendriten, erregt:

Zum einen jene des Hörsystems, zum anderen jene der parallelen Fasern, die Lageinformationen des Kopfes weiterleiten. Die beiden Forscher analysierten die betreffenden Zellen mit der so genannten "Patch-Clamp-Methode", die unter Neurowissenschaftlern äußerst beliebt ist.

Der große Vorteil an dieser Technik: Die "Sprache" der Nervenzellen kann damit in vivo bis in feinste Details untersucht werden.
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Patch-Clamp-Technik zur Analyse von Ionenströmen
Die Patch-Clamp-Technik ist eine elektrophysiologische Methode zur Analyse der Ionenströme durch Membranen. Dabei werden mit einer Klammer Erregungen an der Zellmembran sichtbar gemacht. Im Gegesnatz zur "Voltage-Clamp-Methode" können hierbei auch Messungen an kleinen Membranstücken vorgenommen werden, um die Ströme einzelner Membrankanäle zu erfassen.
->   Mehr zur Patch-Clamp-Technik
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Zellen reagieren sowohl plastisch ...
Die physiologische Analyse förderte ein ungewöhnliches Ergebnis zutage: Oertel und Fujino konnten zeigen, dass die Reizstärke der Signale der parallelen Fasern von den vorangehenden Erregungen abhängig war.

Das heißt, die synaptischen Verbindungen an den spindelförmigen Zellen wurde umso stärker, je öfter sie benutzt wurden - und umso schwächer, je seltener sie benutzt wurden. Der biologische "Sinn" dahinter: "Diese Plastizität dient vermutlich der Anpassung an verschiedene Kopfhaltungen", meint Oertel.
... als auch starr
Im Gegesatz dazu verhielten sich die Signale, die von den Hörnerven stammten, äußerst starr - sie waren nicht durch die vorangehende Erregung veränderbar. Oertel beurteilt diesen Fund als eine physiologische Kuriosität: "Es ist extrem selten, dass eine einzelne Zelle sowohl plastische wie auch stabile Eigenschaften aufweist".
Alles hat seinen Sinn
Nach Oertels Meinung ist auch diese Eigenschaft adaptiv zu begründen: "Wenn auch dieser Teil des Hörsystems plastisch organisiert wäre, dann würden wir gegenwärtig durch das verwirrt werden, was wir einige Momente zuvor gehört haben."

Robert Czepel, science.ORF.at
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